Offenbach: Samson nach Umzug - „mit bemerkenswerter Offenheit empfangen worden“

2022-11-15 16:33:19 By : Ms. Alyssa Zhao

Von: Frank Sommer , Veronika Schade

Der Samson-Umzug von Frankfurt nach Offenbach schlug hohe Wellen. Auf dem ehemaligen Clariant-Gelände wird ein Leuchtturmprojekt realisiert.

Offenbach – Es bedeutet die Rückkehr der Industrie nach Offenbach: Das Frankfurter Traditionsunternehmen Samson mit 700 Millionen Euro Umsatz im vergangenen Jahr wird auf das ehemalige Clariant-Gelände ziehen, „Main-Change“ nennt es das Vorhaben. Samson-Vorstandsvorsitzender Andreas Widl über Chancen und Herausforderungen.

Herr Dr. Widl, bitte erklären Sie den Lesern kurz, was Samson herstellt.

Samson stellt bisher in Frankfurt Ventile, Stellungsregler, Antriebe, Wärmezähler und Automatisierungslösungen rund um die Prozesstechnik her. Stellungsregler weisen die pneumatischen Antriebe der Ventile mit einem definierten Luftdruck an, bis zu welchem Grad sich das Ventil öffnen soll. Unsere digitalen Stellungsregler gelten als die Besten im globalen Markt. Einsatz finden unsere Ventile insbesondere in der chemischen Industrie: Wahrscheinlich über 70 000 alleine bei einem Kunden in Ludwigshafen und über 40 000 im Industriepark Höchst. Auch bei der Verflüssigung und beim Transport von Wasserstoff werden unsere Produkte genutzt. Ventile aus Edelstahl kommen im Lebensmittelbereich zum Einsatz. Ganz wichtig: Sollten sie irgendwo auf der Welt ein Bier trinken, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 80 Prozent, dass beim Brauprozess irgendwo ein Samson-Ventil zum Einsatz kam.

Wie kam es zum Umzug und was ist der Vorteil von Offenbach?

Der Vorteil sind 143 000 Quadratmeter zusammenhängende Fläche in der Stadt – ich wüsste nicht, wo es das in Deutschland noch gibt. Was den Umzug betrifft: Wir haben Samson über die vergangenen sieben Jahre auf ein neues industrielles Niveau überführt, von der – hochwertigen – Ventil-Manufaktur zum Unternehmen mit belastbaren Prozessen und zunehmender Digitalisierung. Was wir aber in Frankfurt nicht lösen konnten, ist ein strukturelles Thema, nämlich, dass hier drei öffentliche Straßen durch unser über 100 Jahre gewachsenes Werksgelände ziehen. Und damit legen die Waren, die wir hier produzieren, Strecken zurück, die weder in der Länge noch in der Qualität akzeptabel sind.

Der Standort war also nicht zukunftsfähig?

Die Topologie ist schlicht kein optimaler Standort für Industrie. Das haben wir insbesondere im Jahr 2018/19 gemerkt, wo wir trotz sehr hohem Umsatz rückläufige Ergebniszahlen hatten – also stimmte da irgendwas in den Abläufen, in den Strukturen nicht. Wir haben in Frankfurt die Grenzen des profitablen Wachstums erreicht. Dann habe ich überraschend Besuch von zwei Professoren der HfG bekommen, die mir erzählten, dass es da drüben auf der anderen Mainseite einen Innovationspark mit großer, zusammenhängender Freifläche gibt. Das war die Chance für Samson, sich neu zu erfinden. Die Vision einer „Fabrik in der Stadt“ als Leuchtturmprojekt für Deutschland ist entstanden.

Ich bin in Deutschland aufgewachsen, hier zur Schule gegangen, habe für unterschiedliche internationale Unternehmen an unterschiedlichen internationalen Standorten gearbeitet. Ich finde, es ist unsere unternehmerische Verpflichtung, wenn man hier lebt und studiert hat, auch etwas zurückzugeben. Ich möchte vor allem zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen und erhalten. Einfach ins Ausland zu gehen, weil es da billiger ist, ist keine belastbare Lösung.

Es wurde über Jahre geklagt, wie schwer es sei, hier in Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen…

…weil es in der Bundespolitik an wirtschaftlicher Kompetenz und Dialogbereitschaft mit den eigentlichen deutschen Arbeitgebern – dem Mittelstand – fehlt. Politik schafft keine Arbeitsplätze. Wenn Bundeskanzler Scholz sagt, „you never walk alone“, dann sollte er kleinere und mittlere Unternehmen im Privatbesitz miteinbeziehen. Das sind diejenigen, die ins persönliche Risiko gehen, Verantwortung übernehmen, aber denen leider kaum zugehört wird. Das politische Ohr gehört in Deutschland seit Jahrzehnten den DAX-Unternehmen, mit denen Rahmenbedingungen ausgehandelt werden, die für viele Mittelständler nicht anwendbar sind. In diesem Zusammenhang ist die Gasumlage der nächste Schnellschuss der Bundesregierung, der unser Unternehmen und viele Privathaushalte zusätzlich belastet. Wir haben in Frankfurt aktuell knapp 1900 Mitarbeiter, ab September über 90 Auszubildende. All diese Familien sind von steigenden Kosten in diesem und im nächsten Jahr betroffen. Die Energiekosten werden sich 2023 für Samson am Standort Frankfurt voraussichtlich verdoppeln – um zu Ihrer Frage zurückzukommen: All das macht die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland nicht leichter. Und trotzdem investieren wir.

Zum Umzug: Wann wird das erstes Ventil „made in Offenbach“ vom Band gehen?

Sie sprechen von unserem großen Projekt „Main-Change“: Wir wollen in zwei Phasen umziehen. Die erste Phase betrifft die Produktion unserer elektronischen Bauteile, der Stellungsregler. Wir glauben, dass wir bedeutend mehr Stellungsregler verkaufen könnten, wenn wir nicht an unsere Kapazitätsgrenze stoßen würden. Daher wird die Elekronikproduktion als erstes umziehen, bereits Ende 2024. Die zweite Phase betrifft die gesamte mechanische Wertschöpfung inklusive Zerspanung, Galvanik, Lackierung, Montage und Prüfung. Die soll bis Ende 2026 in Offenbach sein. Das ist ein ziemlich sportliches Programm.

Wann rollen die ersten Bagger auf dem Grundstück?

Die Bagger müssen Anfang nächsten Jahres beginnen, jetzt haben wir die ganzen Planverfahren für den Bau. Und man muss bedenken: Wir haben ja noch ein operatives Geschäft, wir sind im laufenden Betrieb. Übrigens auch ein Grund für Main-Change: Der Umbau und Ausbau der Fabrik in Frankfurt sozusagen am offenen Herzen wäre ein größeres operatives Risiko.

Wird es beim Umzug den harten Schnitt geben oder wird eine Zeit lang an beiden Orten produziert?

Bei der Stellungsreglerproduktion wird es wohl den harten Schnitt geben. Die betrifft insbesondere die Chip-Bestückung (Surface-mounted-devices) wie auch die gesamte Montagelinie inklusive Test. Entsprechend müssen wir vor dem Umzug auf Vorrat produzieren.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit der Stadt aus Ihrer Sicht?

Ich kann bis jetzt überhaupt nichts Negatives sagen. Wir sind mit einer bemerkenswerten Offenheit empfangen worden. Was Offenbach gerade erlebt, ist das Ergebnis aus einer hervorragenden Kooperation aus Politik und Wirtschaft. Ich kann Offenbach für den Oberbürgermeister nur beglückwünschen, der nie etwas verspricht, was er nicht einhalten kann. Ich glaube, es wird sich über Jahrzehnte zeigen, wie gut diese Art der Führung für eine Kommune ist.

Kann Samson am neuen Standort expandieren?

Wir haben 143 000 Quadratmeter zusammenhängende Fläche in Offenbach erworben, die werden wir nicht gleich komplett bebauen. Freiflächen für künftige Entwicklung auf dem Gelände in Richtung Main bleiben vorerst unbebaut. Wir verfolgen drei Ziele mit dem Projekt „Main Change“: Den optimalen Wertstrom entlang der Fertigung, vom Wareneingang bis zur Auslieferung. Zweitens: Die optimale Begegnungsstätte für Mitarbeiter und Kunden. Wir brauchen eine Infrastruktur, eine moderne Arbeitswelt, in der sich die Menschen an Produkten und Arbeit erfreuen. Drittens: Die optimale Energiebilanz. Das heißt, wir wollen CO2-optimiert bauen und CO2-neutral produzieren. Ich denke, das entspricht ziemlich genau dem Zeitgeist.

Andreas Widl, Vorstandsvorsitzender von Samson, ist 56 Jahre alt und lebt in München. Der promovierte Physiker begann seine Karriere bei der Mannesmann Pilotentwicklung und meldete über 30 Patente an. Daraufhin wechselte er in den Finanzsektor und übernahm Führungspositionen bei GE Capital. Beim Schweizer Konzern Oerlikon verantwortete er die Sanierung defizitärer Geschäftsbereiche, als Asien-Präsident das regionale Wachstum der Gruppe und war anschließend CEO von Leybold Vacuum, bevor er 2013 zu Samson wechselte. Seit 2015 ist er Vorstandsvorsitzender. 

Wie wollen Sie das erreichen?

Mit Solartechnik: Wir haben relativ viel Fläche auf dem Dach für Solar und wir evaluieren außerdem das geothermische Potenzial. Ich würde auch versuchen, Abwärme und Windenergie einzukaufen, wenn das möglich ist.

Wie schaut es mit der Wärmenutzung aus? In der Nähe wird es von Cloud HQ ein riesiges Rechenzentrum geben, das momentan noch nicht weiß, wohin mit der Abwärme…

Alles, was wir bekommen können, würden wir gerne nutzen: Wir haben einen hohen Energie- und Wärmebedarf in der Galvanik, Lackierung und Trocknung. Restwärme aus anderen Quellen sind willkommen, wie in der Natur: Diese kennt keine Verschwendung, daran möchten wir uns orientieren.

Wie wird das Werksgelände aufgebaut sein?

Wir werden den Materialfluss vom Menschenfluss trennen: Es wird ein Logistikzentrum mit Hochregallager für Materialien im Osten geben. Im Westen des Geländes planen wir wiederum ein Parkhaus, eine Mobilitätszentrale für Mitarbeiter und Kunden. Material- und Menschenflüsse müssen harmonieren und dürfen nicht kollidieren.

Thema Lkw-Verkehr und Straßenanbindung – wie sind Ihre Präferenzen?

Für den optimalen Materialfluss unterstützen wir den Ausbau der Infrastruktur auch außerhalb des Innoparks, Stichwort Ausbau B 448. Wir gehen von einem täglichen Transport-Aufkommen von bis zu 175 Fahrzeugen aus – von Lkw bis Kleintransporter. Erfahrungsgemäß kommen die Fahrzeuge aber nicht kontinuierlich, deswegen müssen wir Stoßzeiten innerhalb und außerhalb des Geländes abfangen.

In der Stadtpolitik haben einige Bauchschmerzen beim Thema Parkhaus für die 1900 Mitarbeiter. Wie kommen die bisher zur Arbeit?

Wir bieten seit Jahren ein Jobticket an, viele nutzen daher öffentliche Verkehrsmittel, andere fahren mit dem Auto – jeweils nach Situation und Arbeit, unsere erste Schicht beginnt um sechs Uhr morgens. Unser Haupteinzugsgebiet ist Rhein-Main, tatsächlich kommen viele Samsoner aus Maintal. Durch die unterschiedlichen Schichten planen wir ein Parkhaus für 750 Stellplätze, ein späterer Ausbau hängt vom Umsatzwachstum ab.

Wird es eine Betriebskita geben?

Wir haben hier in Frankfurt keine, entwickeln aber derzeit Modelle mit externen Servicepartnern. Bezüglich Unterkunft für Auszubildende mieten wir bereits heute Wohnraum an, wenn der Fahrtweg zu Samson zu lang ist. Wir sind aber sehr interessiert daran, mit der Stadt Offenbach über Raum für Kitas und Wohnraum für Azubis zu sprechen, allerdings ist auf unserem Gelände dafür nichts vorgesehen.

Wie hoch sind die Kosten für den Umzug?

Wir gehen von einer Investitionssumme von 250 Millionen Euro aus – die mit Abstand größte in der 115-jährigen Firmengeschichte von Samson.

Mit der „Fabrik der Zukunft“ werden Sie sich neu erfinden; Sie sagen auch, dass die Produktion neu gedacht werden müsse. Können Sie das etwas ausführen?

Natürlich wollen wir ein Showcase sein für moderne Produktion in Deutschland. Als Firma, die hier Arbeitsplätze erhält und schafft. Zum Thema Effizienz: Wir haben im Zuge der internen Digitalisierung begonnen, die Maschinenauslastung zu messen und konnten die Produktivität an den Maschinen um bis zu 30 Prozent erhöhen. Inzwischen kommen Leute zu uns, die genau danach fragen, nämlich wie sie ihre eigene Produktion mittels Digitalisierung verbessern können. Was wir bei Samson gerade vollziehen, ist der Wandel von einem Ventillieferanten zu einem Anbieter von Prozessintelligenz: Die Ventile werden smart, kommunikativ und generieren Daten im Betrieb. Und wo viele Daten anfallen, kommt die Künstliche Intelligenz zum Einsatz. Das gilt für die eigene Fertigung wie für die Produktion unserer Kunden.

Sie verkaufen also nicht nur die Ventile, sondern beraten auch, wie diese effizient zu nutzen sind…

Die Digitalisierung bei Samson, intern und extern, ist unser großes Thema. Wenn wir unser hochwertiges „Eisen“ nicht weiterentwickeln, sind wir im Wettbewerb mit günstigeren Anbietern insbesondere aus Asien unterlegen und unsere Margen schrumpfen. Unsere Strategie ist, durch Innovation die Marktführerschaft zu haben, für die der Kunde bereit ist, zu zahlen. Wir müssen, ohne unsere Wurzeln aufzugeben, schauen, dass wir uns verändern – immer mit der Zielsetzung des Kundennutzens. Wenn der Kundenwunsch in Zukunft ist, energieeffizient zu produzieren und wir keine Ventile liefern, die dem Kunden entsprechende Daten und Lösungen mitgeben, dann sind wir leider raus.

Wie ist denn die Stimmung unter den Mitarbeitern hinsichtlich des Umzugs von Frankfurt ausgerechnet nach Offenbach?

Da wird viel gescherzt, aber die Leute nehmen es zum Anlass, nach Offenbach zu gehen und festzustellen, dass sich Offenbach toll entwickelt hat. Da gibt es einen tollen Markt, schöne Restaurants, ein interessantes Kulturangebot und viele andere Dinge. Ich finde es vorbildlich, wie sich die Stadt Offenbach und allen voran ihr Oberbürgermeister für Industrieunternehmen engagiert – das war auch das Ausschlaggebende für uns.

Das Gespräch führten Veronika Schade und Frank Sommer.