Reise zum Mond: Ingenieur verrät spannendsten Moment im ntv-Interview - n-tv.de

2022-11-15 15:44:23 By : Ms. Jenny Yu

Mit der Mond-Rakete SLS, der leistungsstärksten aller Zeiten, wird das "Orion"-Raumschiff zum Erdtrabanten geschossen.

Es ist das wohl größte Abenteuer der Menschheit: eine Reise zum Mond. Mit dem "Artemis"-Programm will die NASA zum Erdtrabanten zurückkehren. Im Jahr 2025, womöglich aber erst 2026, soll wieder ein Mensch den Mond betreten. Die Europäische Weltraumorganisation ESA hat das Mond-Raumschiff "Orion" mit entwickelt und gebaut. Nun steht die Generalprobe bevor: Voraussichtlich am 16. November startet mit der Mission "Artemis 1" ein Testflug ohne Astronauten zum Mond. Alle Systeme sollen dann "auf Herz und Nieren getestet werden", wie der deutsche ESA-Ingenieur Dr. Tobias Langener im Gespräch mit ntv.de erklärt. Er ist verantwortlich für das Antriebssystem des Raumschiffs.

ntv.de: Herr Langener, was ist das für ein Gefühl, an dem neuen Mondprogramm der Menschheit beteiligt zu sein?

Tobias Langener: Es ist schon ein bisschen surreal. Normalerweise habe ich nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, weil wir ein sehr forderndes und stressiges Entwicklungsprogramm haben. Da gibt es jeden Tag Probleme, die gelöst werden müssen. Wenn ich aber mit ein bisschen Abstand darauf blicke, denke ich schon: Wow, du machst gerade beim größten Raumfahrtprogramm der Welt mit. Es ist natürlich auch eine große Verantwortung, aber gleichzeitig sehr spannend.

Sie sind beim Start von "Artemis 1" vor Ort im NASA-Kontrollzentrum in Houston. Sitzen Sie dort auch in dem großen Raum mit den riesigen Bildschirmen an der Wand, den man aus dem Fernsehen kennt?

Das ist der Raum, wo die Flight-Controller sitzen. Dahinter gibt es aber einen weiteren Raum, der fast genauso aussieht, wo wir Ingenieure sitzen, die an Entwicklung und Bau des Raumschiffs beteiligt waren. Es ist der sogenannte Mission Evaluation Room. Zwischen den beiden Räumen wird ständig kommuniziert. Wenn etwa ein Problem auftritt, rufen die Flight-Controller den Mission Evaluation Room an. Sollte etwa ein Ventil im Antriebssystems des Raumschiffs nicht aufgehen, müssen wir uns eine Lösung überlegen, wie man es doch noch auf bekommt.

Wie ist die Stimmung im Mission Evaluation Room? Es geht ja um sehr viel.

ESA-Ingenieur Tobias Langener vor einem Modell des "Orion"-Raumschiffs.

Dort kann man die Anspannung wirklich fühlen. Sie müssen sich vorstellen, der ganze Startvorgang fängt bereits 46 Stunden vor dem Moment an, an dem der Countdown auf null läuft. Das Raumschiff wird angeschaltet, es werden dann die Systeme hochgefahren und die Spannung steigt langsam. Ich komme ungefähr fünf Stunden vor dem Start ins Kontrollzentrum. Wenn ich das Hotel verlasse, sehe ich bereits im Fernsehen, wie die Rakete betankt wird. Im Mission Evaluation Room ist die Atmosphäre dann sehr ruhig, aber angespannt. Man merkt, dass alle hoch konzentriert vor den Bildschirmen sitzen. Das ist natürlich sehr aufregend.

Es gab ja bereits mehrere Startabbrüche bei "Artemis 1". Liegt es daran, dass die Mond-Rakete noch nicht so richtig gut funktioniert?

Startabbrüche sind völlig normal. Es gab Shuttle-Flüge, da wurde der Start viermal abgebrochen und die Crew musste immer wieder herausklettern. Aber das ist auch gut so. Bei "Apollo 1" in den frühen 1960er Jahren saß die Crew schon in der Kapsel, als diese plötzlich zu brennen anfing. Die Astronauten sind dabei gestorben. Und wegen solcher Vorfälle geht man da sehr vorsichtig ran. So ein System besteht schließlich aus zigtausenden Komponenten. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine davon Probleme bereitet, ist relativ hoch. Bei den ersten beiden Startversuchen von "Artemis 1" gab es jedoch mit der Rakete Probleme, nicht aber mit dem Raumschiff. Mit dem sah alles sehr gut aus und wir wären "Ready to Launch" gewesen.

Für die Rakete, Space Launch System oder kurz SLS genannt, ist es ja ebenfalls ein Erstflug. Haben Sie Bedenken, dass beim Start etwas schiefgehen könnte?

Das Mond-Raumschiff "Orion" besteht auf dem Crew-Modul und dem Versorgungs-Modul ESM.

Ich habe da wenig Sorge. Klar, es ist eine neue Rakete und da gibt es immer Risiken. Die Triebwerke wurden vorher jedoch schon beim Space Shuttle eingesetzt. Die gesamte Hauptstufe wurde auch schon im Vorfeld komplett getestet. Auch die Feststofftriebwerke sind relativ robust. Da gab es bisher wenige Probleme, bis auf das "Challenger"-Unglück …

… der Explosion eines Space Shuttles kurz nach dem Start im Jahr 1986.

Das SLS verwendet im Endeffekt die gleichen Booster. Aber man hat aus der "Challenger"-Katastrophe gelernt und seitdem gab es keine Probleme mehr mit diesen Feststofftriebwerken. Die Oberstufe der Rakete ist ebenfalls sehr erprobt, daher bin ich relativ entspannt.

Gibt es einen Moment beim Start von "Artemis 1", dem Sie besonders entgegenfiebern?

Im Endeffekt ist es die Zündung der Rakete. Wenn die läuft, dann fliegen wir. Wenn die Feststofftriebwerke erst einmal an sind, dann brennen die etwa zwei Minuten, dann kann man auch nichts wieder ausstellen. Es ist der Point of no Return.

Das in Bremen von Airbus gebaute Europäische Servicemodul ESM liefert den Antrieb, Strom sowie die Wasser- und Sauerstoffversorgung für das Mond-Raumschiff. Für das Antriebssystem sind Sie als leitender Ingenieur zuständig - worauf müssen Sie beim Start besonders achten?

Den Moment, dem ich besonders entgegenfiebere, nennt man Priming. Dabei wird das Antriebssystem des ESM in den Status versetzt, um danach alle nötigen Manöver durchführen zu können. Das Priming geschieht zwei Minuten und zehn Sekunden nach dem Start und dauert ungefähr zwei Minuten. Wenn das alles klappt, bin ich erstmal erleichtert. Das ist einer der größten Momente während des Aufstiegs. Auch sehr spannend wird die erste Zündung unseres Haupttriebwerkes ungefähr fünf Stunden nach dem Start. Dieses Triebwerk kam auch schon beim Shuttle zum Einsatz.

Der Antrieb des Raumschiffs muss ja bei späteren, bemannten Missionen auch Leben retten können ...

Ja, genau. Sollte es nach dem Start ein Problem mit der Rakete geben, ist das Antriebssystem des ESM ab einer gewissen Höhe dafür zuständig, dass das "Orion"-Raumschiff von der Rakete wegfliegt. Dann bringt es die Kapsel mit den Astronauten einmal um die Erde herum, damit diese wieder sicher im Pazifik landen können. Oder es bringt sie in einen Orbit, von wo aus sie dann wieder sicher landen können. Das kommt jeweils darauf an, in welcher Höhe abgebrochen wird.

Ist das Antriebssystem, das Sie betreuen, auch dafür zuständig, das Raumschiff zum Mond zu bringen?

Im Prinzip ja. Man kann mit dem Antriebssystem auch zum Mond fliegen. Wann diese Funktion gebraucht wird, hängt von der Mission ab. Bei "Artemis 1" wird der Einschuss zum Mond durch die Oberstufe der SLS Rakete gemacht, bei "Artemis 2" dann durch das Antriebssystem des Raumschiffs. Alle Manöver, die zur Rückkehr zur Erde notwendig sind, werden auch vom Antriebssystem des Raumschiffs bereitgestellt.

Wieso wird bei der Mission "Artemis 2" der Raumschiff-Antrieb anderes genutzt als bei "Artemis 1"?

Bei "Artemis 2" fliegen zum ersten Mal Astronauten mit. Das Raumschiff bleibt nach der Trennung von der SLS Rakete zunächst einen Tag im Erdorbit, um erdnah lebenswichtige Systeme und Manöver zu testen. Danach befördert das "Orion"-Antriebssystem die Kapsel in Richtung Mond, an dem dann nur vorbeigeflogen wird, also in keine Mondumlaufbahn, sondern direkt zurück zur Erde. Man möchte diese Mission kurz halten, ungefähr neun bis zehn Tage, um das Risiko für die Astronauten klein zu halten. .

Wie ist es bei den späteren Missionen?

Bei "Artemis 3" und "Artemis 4" macht die Rakete dann wieder den Einschuss zum Mond, da der Treibstoff des "Orion"-Raumschiffs eher um den Mond und für die Rückkehr gebraucht wird. Bei diesen Missionen fliegen auch wieder Astronauten mit und die ersten Mondlandungen seit 1972 sind geplant. Die Mondlandefähre wird übrigens von SpaceX gebaut.

Inwiefern ähnelt "Orion" eigentlich jenen Raumschiffen, die bei den früheren Mondflügen des "Apollo"-Programms eingesetzt wurden?

Die "Orion"-Kapsel ist auf jeden Fall deutlich größer, man kann vier Astronauten und damit einen mehr mitnehmen als bei "Apollo". Und man hat im Inneren auch mehr Platz. Ich durfte mich in Houston mal in ein "Orion"-Modell reinsetzen. Für mich persönlich fühlte es sich immer noch sehr klein an, für ein Raumschiff ist es aber schon komfortabel. Das "Orion"-Raumschiff hat zudem mehr Triebwerke und auch Solarzellen an Bord. Bei "Apollo" wurde der Strom mit Brennstoffzellen erzeugt. Und im Vergleich zu "Apollo" ist "Orion" von der Computertechnologie her viel weiter. Es gibt eine sehr aufwendige Software, die den Astronauten viele Aufgaben abnehmen kann. Auch ist "Orion" für längere Missionen ausgelegt.

Jetzt mal abseits vom Technischen: Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, zum Mond zu fliegen?

Erstmal ist es für Europa ein sehr wichtiger Beitrag. Denn "Artemis" ist eine riesige Raumfahrt-Mission, ähnlich wie damals "Apollo", die europäische Raumfahrtindustrie ist heute aber sehr leistungsstark und kann bei so einem großen und anspruchsvollen Programm mitmachen. Das eröffnet auch die Möglichkeit, dass europäische Astronauten zum Gateway fliegen dürfen …

… der geplanten Station in einer Umlaufbahn um den Mond. In dieser sollen bei späteren Missionen Astronauten aus dem "Orion"-Raumschiff in eine Landefähre umsteigen, um von dort aus auf dem Mond zu landen.

Und die Forschung auf dem Mond wird wieder aufgenommen. Es gibt zudem Ideen, den Mond wirtschaftlich zu nutzen, was wichtig ist, um die gewaltigen Investitionen zu rechtfertigen. Zum anderen geht es auch darum, dass der Mond ein Sprungbrett sein könnte, um später von dort aus zum Mars zu fliegen. Auch für die Inspiration für junge Generationen wird "Artemis" wichtig sein. So hatte ja auch "Apollo" viele begeistert und womöglich dazu beigetragen, dass sich Menschen später in der Schule und der Universität mit Technologien beschäftigt haben.

Sie haben den Mars erwähnt - wäre es ein Traum von Ihnen, später auch an einem Raumschiff mitzuarbeiten, das dort hinfliegt?

Tatsächlich habe ich vorher für "ExoMars" gearbeitet, der Mission mit dem europäischen Rover, die nach der eingestellten Kooperation mit Russland nun umdefiniert wird. Menschen zum Mars zu bringen, ist natürlich ein ganz anderes Level. Aber wenn es dazu kommen sollte, wäre es für mich eine große Herausforderung, in irgendeiner Form mitzuwirken.

Mit Tobias Langener sprach Kai Stoppel